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1. Mose 16,1-16 | Miserikordias Domini | 14.04.2024

Einführung in das 1. Buch Mose

1. Einführung und Gliederung

Das 1. Buch Mose, die Genesis („Entstehung“), in jüdischer Tradition nach dem ersten Wort בְּרֵאשִׁית bəre’šît „Am Anfang“ genannt, berichtet in seinem ersten Teil, der sogenannten Urgeschichte Gen 1-11, von der Erschaffung der Welt, dem ersten Leben auf Erden, den ersten Problemen dieses Lebens und den darauf bezogenen Reaktionen durch Gott sowie der Ausbreitung der Menschheit über die gesamte (zur Zeit der Entstehung des Buches im Blick befindliche) Erde. Der zweite Teil, die Erzelternerzählung Gen 12–50, berichtet von der Entstehung des späteren biblischen Israel in Form einer großen Familiengeschichte mit der Hauptlinie Abraham und SaraIsaak und RebekkaJakob und Lea, Rahel, Bilha und Silpa, von denen mehrere Nebenlinien, nämlich „Israels“ Nachbarn: die Ismaeliter, Ammoniter, Moabiter und Edomiter, unterschieden werden. Die auf den zweitjüngsten Jakob-Sohn Joseph fokussierte Josephserzählung Gen 37; 39–50 berichtet schließlich, wie Jakob und seine Familie nach Ägypten gekommen sind. In Ägypten wird sodann aus den zwölf Jakob-Söhnen das Volk Israel, die Familiengeschichte somit zur Volksgeschichte: Ex 1.

Markantestes Gliederungssystem des überlieferten Textes und zugleich Spezifikum der Genesis gegenüber den anderen Büchern des Pentateuch ist die (priesterschriftliche) Aufteilung in Geschlechterfolgen (תּוֹלֵדוֹת tôledôt), wonach die einzelnen Teile jeweils die Nachkommensgeschichte der in der Genealogie genannten Person(en) oder Größe(n) berichten: 2,4a; 5,1; 6,9; 10,1; 11,10; 11,27; 25,12; 25,19; 36,1/9; 37,2. Die Geschichte des biblischen Israel wird so als Nachkommensgeschichte Jakobs (37,2) verstanden.

2. Entstehung

Obige Rede vom „biblischen Israel“ (im Unterschied zum „historischen Israel“) deutet an, dass die Genesis, ja die fünf Bücher Mose, der Pentateuch, insgesamt, erzählte, gedeutete Geschichte mitteilt, nicht aber Geschichtsschreibung im historiographischen Sinne darstellt: In den Erzelternerzählungen deuten das historische Israel und Juda ihre Gegenwart des 1.Jt.v.Chr. im Modus von Familiengeschichte: Die Nachbarn Israels und Judas werden zu Nebenlinien in der Familiengeschichte des biblischen Israel. In der Urgeschichte werden altorientalische Traditionen transformiert, deren Kenntnis in Israel und Juda frühestens ab der neuassyrischen Zeit vorauszusetzen sind. Die Genesis ist daher keine Sammlung von Sagen aus vorstaatlicher Zeit, die durch die auch in den anderen Büchern des Pentateuch vorliegenden Quellen des Jahwisten, des Elohisten und der Priesterschrift verschriftlicht wurden, wie in den älteren (literarkritisch und überlieferungsgeschichtlich orientierten) Kommentaren zum Buch vorausgesetzt wird (bes. Hermann Gunkel; Gerhard von Rad; Claus Westermann). Die jüngere Forschung am Buch Genesis im Speziellen und am Pentateuch im Allgemeinen zeigt dagegen immer deutlicher, dass

  1. 1.zahlreiche Texte von Anfang an für ihren literarischen Kontext des werdenden Buches in Auseinandersetzung mit bereits bestehenden Texten geschrieben wurden, dass
  2. 2.der Untergang Israels (also des „Nordreichs“) 722 v.Chr. und erst recht der Untergang Judas (also des „Südreichs“) 587 v.Chr. Katalysatoren für Verschriftlichung und Komposition der Texte darstellten, und dass
  3. 3.das bis in die 1970er Jahre zwar nicht unbestrittene, aber maßgebliche Quellenmodell (mit den vier Quellenschriften Jahwist, Elohist, Deuteronomium und Priesterschrift, die in sukzessiven Redaktionsprozessen miteinander verbunden wurden) den Textbestand der Genesis und des Pentateuch insgesamt nicht hinreichend erklären kann.

Entsprechend wird seit den 1970er Jahren immer stärker eine Kombination von Quellen-, Fragmenten- / Erzählkranz- und Ergänzungs- / Fortschreibungsmodellen zur Erklärung der Theologiegeschichte der Genesis (und des Pentateuch insgesamt) vertreten:

Dabei gilt als relativ konsensfähig, dass der Jakob-Esau-Laban-Erzählkranz aus Israel (Gen *25; *27; *29–33) und der Abraham-Lot-Erzählkranz aus Juda (Gen *13; *18-19; *21,1–7) zu den ältesten Texten der Genesis gehören und dem 8. respektive dem 8. oder 7. Jh. v. Chr. zugewiesen werden können. Dass auch die nicht-priesterschriftliche Urgeschichte (Gen *2-4; *6-8) einen ehedem eigenständigen Erzählkranz aus dem späten 7. oder frühen 6. Jh. v. Chr. darstellt, erscheint plausibel, ist aber umstritten. Vergleichbares gilt für die nicht-priesterschriftliche Josephserzählung.

Erstmalig kombiniert wurden die Urgeschichte, die Erzelternerzählung sowie die Exoduserzählung von der Priesterschrift im 5. Jh. v. Chr., deren Erzählzusammenhang von der Schöpfung bis zur Sinaioffenbarung reicht (wobei das genaue Ende umstritten ist). Dabei ist strittig, ob die Priesterschrift als eigene Quellenschrift zunächst literarisch neben den vor-priesterschriftlichen Texten überliefert und erst von späteren Tradenten mit ihnen kombiniert wurde, oder ob die Priesterschrift von Anfang an eine Ergänzung zu den älteren Texten darstellte und niemals isoliert von ihnen bestand. Der Textbestand der Urgeschichte und der Exoduserzählung sowie das theologische Profil der priesterschriftlichen Mose-Berufung mit der Dreiteilung der Geschichte entsprechend der Gottes(namen)kenntnis in Ex 6,2–8 sprechen für erstere These.

Während im klassischen Quellenmodell die große Masse der Texte vor-priesterschriftlich eingeordnet wurde, wird in der aktuellen Forschung die nach-priesterschriftliche Entstehung vieler Texte erkannt und mit dem Ergänzungsmodell erklärt. Dies gilt in besonderer Weise, aber bei Weitem nicht ausschließlich, für die ehedem dem Elohisten zugewiesenen Texte in Gen 15; 20; 21; 22.

3. Wichtige Themen

Die Genesis stellt in ihren ersten Kapiteln den Gott Israels als den Erschaffer der ganzen Welt dar. Oder anders, in der Reihenfolge der kanonischen Leserichtung, formuliert: Der Erschaffer der ganzen Welt erweist sich in der Genesis als der Gott der Erzeltern „Israels“. Auf die Herausstellung der gesamten Menschheit als Ebenbild Gottes im Unterschied zur restlichen belebten Welt (1,26-27; 5,1-3; 9,6), auf den Schöpfungssegen für die gesamte Menschheit (1,28; 9,1.7) – und teilweise auch für die Tierwelt (1,22) – folgt ab Gen 11 eine Konzentration auf die Linie des Noachsohnes Sem, sodann Terach, Abraham, Isaak und Jakob-Israel. Die restliche (damals bekannte) Welt und insbesondere Israels und Judas Nachbarn werden „Israel“ genealogisch zugeordnet und auf diese Weise von „Israel“ abgegrenzt.

Der priesterschriftliche Schöpfungssegen („Seid fruchtbar und mehret euch…“; 1,28; 9,1.7) findet in der Erzelternerzählung seine (literarhistorisch freilich ältere) Fortsetzung in der Nachkommensverheißung an die Patriarchen, die die einzelnen Erzählungen miteinander verbinden. Dabei wird die Realisierung der Nachkommensverheißung in den Erzählungen immer wieder verzögert und gefährdet – durch die anfängliche Kinderlosigkeit der Erzeltern, durch ihr Verhalten gegenüber fremden Herrschern (12,10–20; 20,1–18; 26,1–11), durch ihre Umgehung der Verheißungslinie (Gen 16), und durch Gottes Erprobung Abrahams (22,1–19). Konflikte zwischen Brüdern kommen nicht nur in der zweiten Generation des Menschengeschlechtes vor (Gen 4), sondern durchgehend in der Genesis (wobei die Priesterschrift die ihr bekannten Brüderkonflikte bemerkenswerterweise nicht erzählt). Zu den Verheißungen an die Erzväter (nur in 16,11–12 erhält auch eine Frau, bemerkenswerterweise die später verstoßene ägyptische Sklavin Hagar, eine vergleichbare Verheißung) gehört auch die Segens- und Landzusage. Letztere weist über das Buch Genesis, ja den Pentateuch insgesamt, hinaus.

Die Priesterschrift weist zudem in Gen 9 und Gen 17 die Vorstellung eines Bundes Gottes mit der gesamten Menschheit sowie der Tierwelt bzw. mit Abraham und seinen Nachkommen auf, die nicht primär an der Beachtung von Geboten liegt wie in älteren bundestheologischen Vorstellungen.

Die unendlich vielseitigen und äußerst breit rezipierten Texte der Genesis zeichnen sich schließlich durch ihre realistische, ungeschönte Darstellung menschlichen Lebens auf Erden im Verhältnis zur menschlichen und nicht-menschlichen Mitwelt und im Verhältnis zu Gott aus, das von allen Seiten immer wieder in Frage gestellt und bedroht wird.

Literatur:

  • Albertz, Rainer, Die Josephsgeschichte im Pentateuch. Ein Beitrag zur Überwindung einer anhaltenden Forschungskontroverse (FAT 153), Tübingen 2021.
  • Bührer, W., 2019, Neuere Ansätze in der Pentateuchkritik, VuF 64, 19–32.
  • Gertz, J. Chr., 22021, Das erste Buch Mose (Genesis). Die Urgeschichte Gen 1–11 (ATD 1), Göttingen.
  • Gertz, J. Chr. 62019, Tora und Vordere Propheten, in: Ders. u.a. (Hgg.), Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, Göttingen, 193–312.
  • Köckert, M., 2017, Abraham. Ahnvater – Vorbild – Kultstifter (BG 31), Leipzig.
  • Römer, Th., 2014, Das Buch Genesis, in: W. Dietrich u.a. (Hgg.), Die Entstehung des Alten Testaments. Neuausgabe (ThW 1), Stuttgart, 94–110.
  • Schüle, A., 22020, Die Urgeschichte. Genesis 1-11 (ZBK.AT 1.1), Zürich.
  • Tal, Abraham, Genesis, Biblia Hebraica Quinta 1, Stuttgart 2015.
  • Wöhrle, Jakob, Fremdlinge im eigenen Land. Zur Entstehung und Intention der priesterlichen Passagen der Vätergeschichte (FRLANT 246), Göttingen 2012.

A) Exegese kompakt: 1. Mose 16,1-16

1וְשָׂרַי֙ אֵ֣שֶׁת אַבְרָ֔ם לֹ֥א יָלְדָ֖ה ל֑וֹ וְלָ֛הּ שִׁפְחָ֥ה מִצְרִ֖ית וּשְׁמָ֥הּ הָגָֽר׃ 2וַתֹּ֨אמֶר שָׂרַ֜י אֶל־אַבְרָ֗ם הִנֵּה־נָ֞א עֲצָרַ֤נִי יְהוָה֙ מִלֶּ֔דֶת בֹּא־נָא֙ אֶל־שִׁפְחָתִ֔י אוּלַ֥י אִבָּנֶ֖ה מִמֵּ֑נָּה וַיִּשְׁמַ֥ע אַבְרָ֖ם לְק֥וֹל שָׂרָֽי׃ 3וַתִּקַּ֞ח שָׂרַ֣י אֵֽשֶׁת־אַבְרָ֗ם אֶת־הָגָ֤ר הַמִּצְרִית֙ שִׁפְחָתָ֔הּ מִקֵּץ֙ עֶ֣שֶׂר שָׁנִ֔ים לְשֶׁ֥בֶת אַבְרָ֖ם בְּאֶ֣רֶץ כְּנָ֑עַן וַתִּתֵּ֥ן אֹתָ֛הּ לְאַבְרָ֥ם אִישָׁ֖הּ ל֥וֹ לְאִשָּֽׁה׃ 4וַיָּבֹ֥א אֶל־הָגָ֖ר וַתַּ֑הַר וַתֵּ֨רֶא֙ כִּ֣י הָרָ֔תָה וַתֵּקַ֥ל גְּבִרְתָּ֖הּ בְּעֵינֶֽיהָ׃ 5וַתֹּ֨אמֶר שָׂרַ֣י אֶל־אַבְרָם֮ חֲמָסִ֣י עָלֶיךָ֒ אָנֹכִ֗י נָתַ֤תִּי שִׁפְחָתִי֙ בְּחֵיקֶ֔ךָ וַתֵּ֨רֶא֙ כִּ֣י הָרָ֔תָה וָאֵקַ֖ל בְּעֵינֶ֑יהָ יִשְׁפֹּ֥ט יְהוָ֖ה בֵּינִ֥י וּבֵינֶֽיׄךָ׃ 6וַיֹּ֨אמֶר אַבְרָ֜ם אֶל־שָׂרַ֗י הִנֵּ֤ה שִׁפְחָתֵךְ֙ בְּיָדֵ֔ךְ עֲשִׂי־לָ֖הּ הַטּ֣וֹב בְּעֵינָ֑יִךְ וַתְּעַנֶּ֣הָ שָׂרַ֔י וַתִּבְרַ֖ח מִפָּנֶֽיהָ׃ 7וַֽיִּמְצָאָ֞הּ מַלְאַ֧ךְ יְהוָ֛ה עַל־עֵ֥ין הַמַּ֖יִם בַּמִּדְבָּ֑ר עַל־הָעַ֖יִן בְּדֶ֥רֶךְ שֽׁוּר׃ 8וַיֹּאמַ֗ר הָגָ֞ר שִׁפְחַ֥ת שָׂרַ֛י אֵֽי־מִזֶּ֥ה בָ֖את וְאָ֣נָה תֵלֵ֑כִי וַתֹּ֕אמֶר מִפְּנֵי֙ שָׂרַ֣י גְּבִרְתִּ֔י אָנֹכִ֖י בֹּרַֽחַת׃ 9וַיֹּ֤אמֶר לָהּ֙ מַלְאַ֣ךְ יְהוָ֔ה שׁ֖וּבִי אֶל־גְּבִרְתֵּ֑ךְ וְהִתְעַנִּ֖י תַּ֥חַת יָדֶֽיהָ׃ 10וַיֹּ֤אמֶר לָהּ֙ מַלְאַ֣ךְ יְהוָ֔ה הַרְבָּ֥ה אַרְבֶּ֖ה אֶת־זַרְעֵ֑ךְ וְלֹ֥א יִסָּפֵ֖ר מֵרֹֽב׃ 11וַיֹּ֤אמֶר לָהּ֙ מַלְאַ֣ךְ יְהוָ֔ה הִנָּ֥ךְ הָרָ֖ה וְיֹלַ֣דְתְּ בֵּ֑ן וְקָרָ֤את שְׁמוֹ֙ יִשְׁמָעֵ֔אל כִּֽי־שָׁמַ֥ע יְהוָ֖ה אֶל־עָנְיֵֽךְ׃ 12וְה֤וּא יִהְיֶה֙ פֶּ֣רֶא אָדָ֔ם יָד֣וֹ בַכֹּ֔ל וְיַ֥ד כֹּ֖ל בּ֑וֹ וְעַל־פְּנֵ֥י כָל־אֶחָ֖יו יִשְׁכֹּֽן׃ 13וַתִּקְרָ֤א שֵׁם־יְהוָה֙ הַדֹּבֵ֣ר אֵלֶ֔יהָ אַתָּ֖ה אֵ֣ל רֳאִ֑י כִּ֣י אָֽמְרָ֗ה הֲגַ֥ם הֲלֹ֛ם רָאִ֖יתִי אַחֲרֵ֥י רֹאִֽי׃ 14עַל־כֵּן֙ קָרָ֣א לַבְּאֵ֔ר בְּאֵ֥ר לַחַ֖י רֹאִ֑י הִנֵּ֥ה בֵין־קָדֵ֖שׁ וּבֵ֥ין בָּֽרֶד׃ 15וַתֵּ֧לֶד הָגָ֛ר לְאַבְרָ֖ם בֵּ֑ן וַיִּקְרָ֨א אַבְרָ֧ם שֶׁם־בְּנ֛וֹ אֲשֶׁר־יָלְדָ֥ה הָגָ֖ר יִשְׁמָעֵֽאל׃ 16וְאַבְרָ֕ם בֶּן־שְׁמֹנִ֥ים שָׁנָ֖ה וְשֵׁ֣שׁ שָׁנִ֑ים בְּלֶֽדֶת־הָגָ֥ר אֶת־יִשְׁמָעֵ֖אל לְאַבְרָֽם׃ ס

Genesis 16:1-16BHSBibelstelle anzeigen

Übersetzung

1 Sarai aber, Abrams Frau, hatte ihm keine Kinder geboren. Sie hatte aber eine ägyptische Sklavin, deren Name Hagar war.

2 Da sprach Sarai zu Abram: „Siehe doch, YHWH hat mich daran gehindert, zu gebären. Gehe doch zu meiner Sklavin ein. Vielleicht werde ich aus ihr erbaut.“ Und Abram hörte auf die Stimme Sarais.

3 Und Sarai, Abrams Frau, nahm die Ägypterin Hagar, ihre Sklavin, nachdem Abram zehn Jahre im Lande Kanaan gewohnt hatte, und gab sie Abram, ihrem Mann, für ihn zur Frau.

4 Und er ging zu Hagar ein, und sie wurde schwanger. Und als sie sah, dass sie schwanger war, wurde ihre Herrin gering in ihren Augen.

5 Da sprach Sarai zu Abram: „Mein Unrecht sei auf dir! Ich selbst habe meine Sklavin in deinen Schoß gegeben. Doch als sie sah, dass sie schwanger ist, wurde ich gering in ihren Augen. YHWH richte zwischen mir und zwischen dir!“

6 Und Abram sprach zu Sarai: „Siehe, deine Sklavin ist in deiner Hand. Mache mit ihr, was gut ist in deinen Augen.“ Da bedrückte Sarai sie, bis sie vor ihr floh.

7 Aber der Bote YHWHs fand sie an einer Wasserquelle in der Wüste, an der Quelle auf dem Weg nach Schur.

8 Und er sprach: „Hagar, Sklavin Sarais, woher bist du gekommen und wohin gehst du?“ Und sie sagte: „Vor Sarai, meiner Herrin, bin ich auf der Flucht.“

9 Und der Bote YHWHs sprach zu ihr: „Kehre zurück zu deiner Herrin und lass dich bedrücken unter ihren Händen.“

10 Und der Bote YHWHs sprach zu ihr: „Ich will deine Nachkommenschaft überaus zahlreich machen, dass man sie nicht zählen kann vor Menge.“

11 Und der Bote YHWHs sprach zu ihr: „Siehe, du bist schwanger und wirst einen Sohn gebären. Du sollst seinen Namen Ismael nennen, denn YHWH hat deine Bedrückung gehört.

12 Und er wird ein Wildesel von Mensch sein. Seine Hand gegen alle und die Hand aller gegen ihn. Und allen seinen Brüdern gegenüber wird er wohnen.“

13 Und sie nannte den Namen YHWHs, der zu ihr geredet hatte: „Du bist El-Roi.“ Denn sie sprach: „Ja, hier habe ich dem hinterher gesehen, der mich gesehen hat.“

14 Daher nennt man den Brunnen Beer-Lachai-Roi. Siehe, er ist zwischen Kadesch und Bered.

15 Und Hagar gebar Abram einen Sohn. Und Abram nannte den Namen seines Sohnes, den Hagar geboren hatte, Ismael.

16 Abram aber war 86 Jahre alt, als Hagar Ismael dem Abram gebar.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V. 1a: Die Namensformen Sarai und Abram werden in Gen 17,15 bzw. Gen 17,5 von Gott in Sarah und Abraham geändert.

V. 1a: Das Objekt des Gebärens wird im Hebräischen hier nicht explizit genannt: „Sarai aber … hatte ihm nicht geboren.“

V. 1b: Die Bedeutung des Namens Hagar ist trotz seit alters zahlreicher vorgeschlagener Ableitungsmöglichkeiten (etwa „Fremde“ oder „Geflüchtete“) nicht klar. Dass sie aus Ägypten stammt, dürfte Gen 12,16 entnommen sein, wonach Abram vom Pharao u.a. Sklavinnen erhält.

V. 2: „Vielleicht werde ich aus ihr erbaut“: Mit „Bauen“ (בנה bnh) ist die Gründung eines Hausstandes, die Geburt eines Kindes oder von Kindern gemeint. Vgl. Gen 30,3; Dtn 25,9; Ruth 4,11.

V. 11: Der Name Ismael bedeutet „Gott / El hört / hat gehört“ und wird begründet durch YHWHs Hören (שׁמע šm‘; V. 2.11). Indem YHWH Hagars Bedrückung (עֳנִי ‘ånî) gehört hat, bezieht sich der Text zurück auf Hagars Bedrückung durch Sarai in V. 6.9 (ענה ‘nh). Üblicher ist die Zusammenstellung von Sehen (ראה r’h) und Bedrückung (vgl. Gen 29,32; 31,42; Ex 3,7; 4,31; Dtn 26,7; 1 Sam 1,11 u.ö.).

V. 12: Den Wildesel kennzeichnen sowohl sein Kampf ums Überleben (vgl. Hi 6,5; 24,5 u.ö.) wie auch seine (von Gott gegebene) Freiheit (vgl. Hi 39,5–8; Ps 104,11): Ismael ist so der Knechtschaft enthoben.

V. 13: In V. 13a gibt Hagar YHWH einen besonderen Namen und in V. 13b begründet sie die Benennung. Leitwort hierbei ist nicht etwa das Hören wie bei Ismael, sondern das Sehen (ראה r’h; V. 4.5.13[3x].14). Die masoretische Vokalisation unterscheidet zwischen dem Substantiv רֳאִי rå’î „Sehen; Aussehen“ in V. 13a und dem Verb ראה r’h „sehen; wahrnehmen“ in allen anderen Belegen der Wurzel in Gen 16. Nach der masoretischen Vokalisation bedeutet El-Roi (אֵל רֳאִי ’el rå’î) daher „Gott des Sehens / Gesehenwerdens“; betont wird dabei, dass Gott gesehen werden kann. Diese Deutung bezieht sich auf den ersten Teil von Hagars Begründung (רָאִיתִי rā’îtî „ich habe gesehen“). Der zweite Teil von Hagars Begründung (רֹאִי ro’î „[den,] der mich gesehen hat“), der Name des Brunnens in V. 14 (בְּאֵר לַחַי רֹאִי bəer laḥaj ro’î; s.u. zu V. 14), die antiken Versionen zur Gottesbezeichnung (Samaritanus, Septuaginta, Vulgata, Targume) sowie die Erzählung als ganze (Hagar wird gefunden und erhört, YHWH hilft ihr; eine Gottesschau ist hierbei nicht notwendig) legen dagegen nahe, (El-)Roi ursprünglich als suffigiertes Partizip zu verstehen und Gott damit als Subjekt des Sehens zu deuten: אֵל רֹאִי ’el ro’î „Gott, der mich sieht“. Die Luther-Übersetzung und mit ihr die Jahreslosung 2023 folgen entgegen dem masoretischen Text dieser wohl ursprünglichen Deutung der Gottesbezeichnung („Du bist ein Gott, der mich sieht“). Die rhetorische Frage („Habe auch ich hier gesehen…?“) ist im Sinne einer Bekräftigung zu verstehen: „Ja / Gewiss / Wahrlich, hier habe ich gesehen…“. Dass Hagar Gott „hinterher“ gesehen hat, schützt sie vor Gottes Präsenz (vgl. Ex 33,23), und lässt sich auch dahingehend deuten, dass sich Gotteserkenntnis oft erst im Nachhinein einstellt.

V. 14: Die Wasserquelle aus V. 7 ist in dem Erzählerkommentar zu einem Brunnen (בְּאֵר bəer) geworden, der aufgrund der Hagar-Erzählung Beer-Lachai-Roi (בְּאֵר לַחַי רֹאִי bəer laḥaj ro’î) genannt wird, das nach V. 13 am besten mit „Brunnen des Lebendigen, der mich sieht“ übersetzt wird. Als theologische Aussage verstanden verwundert es nicht, dass der Brunnen nicht lokalisiert werden kann – auch nicht mittels der geographischen Angaben in V. 7b und V. 14b, die immerhin in den Negeb weisen.

2. Literarische Gestaltung

Gen 16 lässt sich in zwei Teile mit jeweils zwei Unterteilen gliedern:

Teil 1, V. 1–6, spielt bei Abram und Sarai in Mamre bei Hebron (vgl. 13,18); im Vordergrund steht Sarai. Abram und Hagar reagieren auf sie.

Teil 2, V. 7–16, spielt (primär) in der Wüste; im Vordergrund stehen Hagar und der Bote YHWHs, erst am Schluss kommt Abram wieder ins Spiel.

Zusammengehalten werden beide Teile nebst den Hauptfiguren der Erzählung durch die Motive von Empfängnis (הרה hrh) und Geburt (ילד jld; vgl. insgesamt V. 1.2.4.5.11.15.16) sowie von der Bedrückung Hagars durch Sarai (ענה ‘nh V. 6.9.11).

V. 1–4a: Da Sarai Abram bislang keine Kinder geboren hat (ein Umstand, den sie auf YHWH zurückführt; vgl. 30,2), nimmt sie ihre Sklavin Hagar und gibt sie Abram, um als Ersatzmutter (vielleicht!) Kinder für Sara zu gebären (vgl. das Vorgehen Rahels in 30,3). Kommentarlos hört Abram auf seine Frau, Hagar bleibt stummes Objekt von Sarais und Abrams Tun.

V. 4b–6: Hagars Schwangerschaft (V. 4a) stellt jedoch nicht die Lösung des Ausgangsproblems dar, sondern ein neuerliches Problem: Die (fruchtbare) Sklavin achtet ihre (unfruchtbare) Herrin nun gering (vgl. Spr 30,21–23), die Herrin bedrückt daraufhin ihre Sklavin (explizit und implizit legitimiert durch Abram und YHWH), und schließlich flieht die Sklavin mit dem in ihr heranwachsenden Nachkommen Abrams.

V. 7–12: Der Bote YHWHs findet sie in der Wüste und gibt ihr, die nur seine Frage nach ihrem Woher, nicht aber die nach ihrem Wohin beantworten kann (V. 8), eine neue Perspektive: Im Geburtsorakel V. 11 und dem Stammesspruch V. 12 wird Hagars künftigem Sohn Ismael ein Platz unter den Völkern zugewiesen: Im (lokalen wie ideellen) Gegenüber zu seinen Brüdern.

V. 13–16: Hagar erkennt im Boten YHWHs schließlich niemand anderen als YHWH selbst und bringt in der Charakterisierung Gottes als El-Roi die Fürsorge YHWHs um sie und ihren Sohn zum Ausdruck. V. 15-16 berichten abschließend von der Geburt Ismaels und dessen Benennung durch Abram (womit im vorliegenden Text eine Rückkehr Hagars vorausgesetzt ist) und reihen Ismaels Geburt in die Geschichte Abrahams ein.

3. Kontexte

Gen 16 stellt innerhalb der Abraham-Erzählungen von Gen 12–25 ein retardierendes Moment dar: Dass Sarai unfruchtbar ist, hat bereits 11,30 vermerkt; in 17,15–21 und 18,10–15 reagieren Abraham und Sarah aufgrund ihres bereits hohen Alters ungläubig auf die Ankündigung eines gemeinsamen Kindes. Die mehrfach wiederholte Sohnes-Verheißung an Abraham (und Sarah) in 12,2; 13,15–16; 15; 17,6–8.15–21; 18,10–15 (in 12,10–20 und 20,1–18 durch Abrahams und Sarahs Verhalten fremden Herrschern gegenüber gefährdet und in Gen 22 durch Gott selbst in Frage gestellt) läuft jedoch auf Isaak und über ihn auf Jakob-Israel hinaus. Wenn Sarai und Abram in Gen 16 Gottes Verheißung durch ihren Plan der Ersatzmutterschaft aus eigener Kraft zur Erfüllung bringen wollen, kann dies daher nur einen Umweg darstellen. Ismael muss entsprechend von Abraham und Sarah getrennt werden – durch Flucht in 16,6, durch Vertreibung in 21,8–21 (vgl. Ri 11,1–3.7) und durch Abgrenzung in 17,18–21 (vgl. noch 25,6). Die Geburt des verheißenen Sohnes Isaak wird in 21,1–7 entsprechend auf Gott zurückgeführt (vgl. 30,17.22–23).

Die genannten Texte gehen auf unterschiedliche Autoren zurück, was sich auch in verschiedenen Spannungen innerhalb von Gen 16 bemerkbar macht:

  1. 1.Die ältere Abraham-Lot-Erzählung (Gen *13; *18–19; *21,1–7) kennt nur Isaak als Abrahams Sohn und die auf Lots Inzest zurückgeführten Nebenlinien der Moabiter und Ammoniter.
  2. 2.Gen 16 erweitert dieses Gefüge durch die auf Abraham zurückgeführte Nebenlinie der Ismaeliter und „verkompliziert“ dadurch die ursprüngliche Sohnes-Verheißung für Abraham. Der für arabische Stämme stehende Ismael lebt auf dieser Ebene in der Wüste, die Erzählung endete daher ursprünglich in 16,14a (16,1–2.4–6.7a.8.11–14a).
  3. 3.Erst die priesterschriftlichen Texte bieten eine klare Abgrenzung zwischen den beiden Abraham-Söhnen: Isaak allein gilt der ewige Bund, er steht für die „Israel“-Linie; Ismael wird um Abrahams willen Vater von zwölf arabischen Stämmen, bleibt aber eine Nebenlinie (vgl. 17,15–21; *25,12–18). Mit den priesterschriftlichen Versen 16,3.15.16 [die Zugehörigkeit von V. 15 zur priesterschriftlichen Schicht ist umstritten] wird Gen 16 zeitlich genau in die (priesterschriftliche) Abraham-Erzählung eingetaktet, und Ismael näher an Abraham herangerückt (die Benennung Ismaels erfolgt wie bei Isaak durch Abraham: 16,15, 21,3; durch die Benennung anerkennt Abraham Ismael als „seinen Sohn“); noch in 25,9 bestatten Isaak und Ismael gemeinsam ihren Vater.
  4. 4.Ein späterer Bearbeiter lässt Hagar daher wieder zu Abram zurückkehren (16,9; dazu wohl auch 16,7b.14b, die die fliehende Hagar auf dem Weg nach Ägypten zeigen) – zum Preis, dass sich Hagar Sarais Bedrückung gefallen lassen muss, aus der sie Gott doch bereits befreit hatte (vgl. 16,11), und zum Preis, dass Hagar und Ismael nach Isaaks Geburt schließlich vertrieben werden (müssen) zur Sicherung von Isaaks Erbansprüchen (21,8–21).
  5. 5.Auch die im vorliegenden Text zweite von drei gleich eingeleiteten Reden des Boten YHWHs, 16,10, ist eine spätere Ergänzung. Sie verallgemeinert die konkrete Geburtsankündigung aus 16,11–12 und setzt die Verheißungen aus 17,20; 21,13.18; *25,12–18 voraus (zur Formulierung vgl. 22,17; 32,13).

4. Schwerpunkte der Interpretation und theologische Perspektivierung

Gen 16 ist in erster Linie eine Ätiologie, eine Ursprungsgeschichte der Ismaeliter: Das Kapitel begründet das geographische und ideelle Gegenüber von Ismael und „Israel“ bzw. von Ismael und seinen Brüdern insgesamt, indem, wie bei den anderen politischen Verhältnisbestimmungen der Genesis, die Geschichte „Israels“ als Familiengeschichte gedeutet wird. Innerhalb dieser Familiengeschichte „Israels“ stellen Ismael und seine Nachkommen eine direkt auf Abraham zurückgeführte Nebenlinie dar.

Die Erzählung begründet diese Nebenlinie nicht etwa durch die Abwertung der Ersatzmutterschaft einer Sklavin, noch dazu einer ägyptischen. Denn wie die Erzählung von Isaaks Sohn Jakob in Gen 29,31–30,24 zeigt, kann Ersatzmutterschaft durchaus Teil der Realisation der göttlichen Nachkommensverheißung sein: Die Zwölfzahl der Jakob-Israel-Söhne wird auf Lea und ihre Sklavin Silpa sowie auf Rahel und ihre Sklavin Bilha zurückgeführt. Vielmehr zielt die Sohnes- und Landverheißung an Abraham auf den auf „Israel“ hinführenden Isaak, dessen Geburt aufgrund des Alters von Abraham und Sarah als auf Gott zurückgeführtes „Wunder“ interpretiert wird (18,14). Dies ist den „israelitischen“ Adressaten der Erzählung von Anfang an klar und wird durch den Stammesspruch V. 12 auch in der Erzählung deutlich. Die Einmischung in die „Heilsgeschichte“ durch Sarai und Abram ist daher von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Sie scheitert im vorliegenden Text durch Hagars Überhebung (vgl. 1 Sam 1,6–7) und Sarais Härte (s.u.). Insofern bietet Gen 16 auch eine Erzählung über personale Interaktionen mit zwei Frauen als Hauptfiguren und einem erstaunlich passiven Abraham, die unter individualethischen Gesichtspunkten gedeutet werden kann. Gott, der im ersten Teil der Erzählung lediglich in Figurenrede genannt wird, aber nicht als Handlungssubjekt auftritt, kümmert sich aber auch um die ägyptische Sklavin und den in ihr heranwachsenden Nachkommen Abrahams, wie der zweite Teil der Erzählung berichtet. Wie Gott die Bedrückung „Israels“ in Ägypten sieht (Ex 3,7; 4,31; Dtn 26,6–7; vgl. auch Gen 15,13; Ex 1,11–12), so hört er hier die Bedrückung der ägyptischen Sklavin durch die Ahnmutter „Israels“ und schreitet ein, indem er ihr durch die Sohnesverheißung eine Perspektive gibt. Gottes Fürsorge gilt auch den nicht-„israelitischen“ Abraham-Nachkommen (Gott hält nach Gen 16 also an seiner Verheißung für die „Israel“-Linie fest und versieht die Nebenlinie mit einer neuen Verheißung; Paulus dagegen vertauscht in gewisser Weise die beiden Verheißungen in Gal 4,21–31). Insofern bietet Gen 16 auch eine Erzählung über den rechten Umgang mit Fremden und über den rechten Umgang mit sozial niedriger gestellten und entsprechend Schutz bedürftigen Personen: Nach Ex 22,21–22 hört Gott den Schrei der bedrückten Witwen und Waisen.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Durch die Exegese wird verdeutlicht, dass in der Predigtvorbereitung zwei Ebenen miteinander konkurrieren werden: die Volksgeschichte der Israeliten und Ismaeliten zum einen, die personale Ebene vor allem zwischen den beiden Frauen zum anderen. Heutige Hörer dürften sich sofort individuell auf der Ebene der Protagonisten wiederfinden, wie auch die Popularität der Jahreslosung von 2023 zeigt. Sarais Ungeduld, Hagars Überhebung, Sarais Härte, Hagars Not – all das sind allgemeinmenschliche Motive, die im Zuhörer etwas auslösen, die ihn vielleicht auch sofort Partei ergreifen lassen. Und dann ist der eigentlich Handelnde wohlmöglich doch Gott, der schuld ist an Sarais Unfruchtbarkeit, der Hagar zwar ansieht, sie aber doch zurückschickt und der am Ende trotz aller menschlichen Versuche der Abkürzungen seinen Plan durchziehen wird.

Die Exegese bewahrt also davor, die Geschichte ausschließlich auf einer zwischenmenschlichen Ebene anzusiedeln und den Blick auf die große Heilsgeschichte zu verlieren. So steht die Diskrepanz zwischen Hoffnung und Erfüllung in diesem Leben dem Bogen von Verheißung und Erfüllung über dieses Leben hinaus entgegen.

Die entscheidendste Erkenntnis aus der Exegese scheint zu sein, dass der irritierende Umstand, dass Gott Hagar trotz der vorherigen Befreiung zu Sarai in eine äußerst schreckliche Lebenssituation zurückschickt, eigentlich dem Umstand geschuldet ist, dass hier ein letzter Bearbeiter die Verbindung zur priesterschriftlichen Namensgebung durch Abram schaffen wollte. Man fragt sich: Spielt hier der Redaktor Schicksal?

Dass Gott hier als ein Gott der „Witwen und Waisen“ sichtbar werden soll, verengt den Umstand, dass Gott in den Erzelterngeschichten ein Gott der gesamten Familie und ihres Gesindes ist, der aber eben das Leid eines Individuums unabhängig von dessen Nationalität, Stand und Charakter (!) erkennt und sich daraufhin zuwendet. Auch der erwähnte Umgang mit Fremden erschließt sich eigentlich nur auf der Ebene der Volksgeschichte, weil nur in diesem Rahmen von Bedeutung ist, dass Ismael ein zweites Volk mit zwölf Fürsten parallel zu den zwölf Stämmen Israels ist. Beide Themen wären eher für eine Predigt „auf den zweiten Blick“.

2. Thematische Fokussierung

Eindeutig stehen Sarai und Hagar im Mittelpunkt dieses Textes und einer Predigt. Sarai treibt mit ihrer Ungeduld die Geschichte an: Sie ist es leid, auf Erfüllung zu warten und zu hoffen, ihre Ohnmacht kehrt sie um, indem sie einen Plan schmiedet und zu handeln beginnt. Ihr Mann Abram, sonst doch so glaubensstark, der in Gen 15 noch die konkrete Verheißung erhalten hat, einen eigenen, leiblichen Sohn zu bekommen, bleibt ausgesprochen blass in dieser Aktion. Hat er die Verheißung vergessen? Glaubt er nicht an sie? Will er einfach, dass seine Frau aufhört, ungläubig zu jammern? Die Bibel schweigt sich dazu aus. Abram zeugt mit Hagar ein Kind. Deren Position bringt es mit sich, dass sie keine Wahl hat und sich der Anweisung ihrer Herrin beugen muss. Doch mit der Schwangerschaft ändert sich das Beziehungsgefüge empfindlich. Nun treibt Hagar die Geschichte voran, indem sie sich der alten, unfruchtbaren Sarai überlegen fühlt. Der Text sagt deutlich, dass es nicht Sarai ist, die plötzlich eifersüchtig wird, sich minderwertig fühlt und ihren Plan bereut, sondern dass Hagar ihre neue Position ausnutzt: Endlich hat sie einen Trumpf in der Hand – bzw. unter dem Herzen. Auf Aktion folgt Reaktion: Sarai erwirkt als Ehefrau Abrams, dass Hagar gehen muss, und beruft sich dabei sogar auf Gott als Richter. Eben erst herausgekrochen aus der niedrigen Position einer Magd, fällt Hagar in größte Not. Sie als Opfer zu sehen, würde dabei zu kurz greifen. Beide Frauen sind Opfer und Täterinnen, beide nutzen ihre Position aus, beide sind nur zu verstehen aus ihrem Schicksal heraus.

Dabei ist spannend, dass weder Sarai für ihren Umgang mit ihrer Magd noch Hagar für ihre Reaktion von Gott gemaßregelt werden. Am Ende geschieht an beiden Frauen Erfüllung.

3. Theologische Aktualisierung

In einer Zeit, in der immer mehr machbar wird, ist der Umgang mit Unverfügbarkeit, mit der Spannung zwischen Verheißung und Erfüllung, umso schwieriger geworden: Wer ein Ziel nicht erreicht, wer unglücklich ist – der könnte selbst schuld sein, weil er einfach nicht genug investiert hat. Ergebe ich mich also in mein Schicksal oder scheue ich keine Anstrengung, vielleicht auch kein moralisches Hindernis, um meinen Traum zu erfüllen? Hier im Text ist es das Thema der Familiengründung, das können aber auch ganz andere Wünsche und Sehnsüchte sein. Jeder und jede hat seine unerfüllten Hoffnungen und Enttäuschungen. Wann muss ein Mensch einsehen, dass er nichts mehr ausrichten kann? Sarai pfuscht Gott in dessen großen Plan und bewirkt dadurch auf den ersten Blick nur noch mehr Probleme, veranlasst spannenderweise gleichzeitig die Volkwerdung der Ismaeliter, aber muss am Ende einsehen, dass Gott am längeren Hebel sitzt und ihr Plan nur ein lächerlicher Umweg war. Das Schicksal Sarais und ihr Umgang mit diesem bringt unglaublich eindringlich die Frage nach dem Gottesverhältnis der alttestamentlichen Figuren und sodann des Zuhörers selbst auf. Für Sarai ist klar, dass ihre Misere von Gott herrührt; sie gelangt aber nicht zu der Erkenntnis, dass deshalb nur Gott es lösen kann, sondern sie meint, es vielleicht selbst in der Hand zu haben. Sie ist in diesem Moment unfassbar modern.

Der Haken ist, dass Abram eine direkte Verheißung erhalten hat, einen leiblichen Sohn zu bekommen. Welche Verheißungen ergehen so konkret für das Hier und Jetzt unseres Lebens an uns? Neidisch blickt man auf die Figuren des Alten Testaments; wer möchte nicht von Gott angerufen werden und erfahren, was die Zukunft bringt? Das zu glauben – so lernen wir im Alten Testament – ist dann immer noch schwierig genug.

Einer Person wie Hagar, die etwas hat, was jemand anderes nicht hat – wer ist ihr nicht schon begegnet und wurde so bitter an die eigenen Enttäuschungen, Sehnsüchte, Mängel erinnert? Dass sie schwanger ist, ist nicht ihr Verdienst, bleibt bis heute ein Wunder der Natur, ist Fügung. Aber sie spielt sich auf, dünkt sich etwas Besseres zu sein. Man kann auch hier viele andere Themen finden und sich auf diese beziehen. Gott ist bei Hagar in ihrem teilweise selbst verschuldeten Leid, in ihrer Not. Sie fühlt sich gesehen und verstanden, wohl auch getröstet. Auch ihr wird eine Verheißung gemacht, die Zuversicht in die Zukunft spenden kann. Hagar erfährt, dass sie in die Geschichte eingehen wird. Gleichzeitig ist damit für Hagar nicht alles gut: sie muss zurück zu Sarai, soll sich weiterhin drangsalieren lassen. Gott hebt nicht alle Beschwernisse dieses Lebens auf. Dieser Realismus ist großartig! Einerseits dürfte er die Lebenswirklichkeit so mancher Hörer treffen, andererseits wird in einer solchen harten Lebenssituation keine Gottverlassenheit deklariert, sondern Gottesnähe.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Der sogenannte Hirtensonntag bespielt mit verschiedenen Texten das Bild eines sich kümmernden Gottes, der in letzter Konsequenz sein Leben gibt für die, die ihm treu folgen. Damit zeigt sich, dass der eigentliche Schwerpunkt der alttestamentlichen Perikope auf dem Ausspruch der getrösteten Hagar liegt: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Diese Perikope zeichnet kein eindeutiges Schwarz-weiß: beide Frauen sind Täterin und Opfer zugleich, über beide kann man sich aufregen, beide Frauen kann man verstehen; zugleich ist dieser Gott, der hinsieht und tröstet, einer, der einen nicht unbeschadet durchs Leben gehen lässt – selbst dann nicht, wenn man bereits in großer Not und tief gesunken ist und vom ganzen Leid endlich erlöst sein möchte. Zuletzt wirft sie die virulente Frage auf, wann und wie der Mensch auf sein Lebensgeschick Einfluss nehmen kann, was machbar ist und was Gott überlassen bleiben muss – ganz im Sinne des „Dein Wille geschehe“. Damit wird diese Geschichte unverzichtbar für eine Gesellschaft, die gerne in Gut und Böse unterteilt, die zu schnell meint, genau zu wissen, wo die Wahrheit liegt, und die obendrein noch den Eindruck vermittelt, wissenschaftliche Erkenntnisse, eigene Leistung und kluge Entscheidungen würden dem Leben schon die richtige Wendung geben.

Autoren

  • PD Dr.  Walter Bührer (Einführung und Exegese)
  • Elisa Victoria Blum (Praktisch-theologische Resonanzen)

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